- Myron und Paionios: »Moderne Kunst« in klassischer Zeit
- Myron und Paionios: »Moderne Kunst« in klassischer ZeitNicht alle Bildhauer des 5. Jahrhunderts v. Chr. ließen sich auf die maßgeblich von Polyklet geprägte dominierende Kunstrichtung ein. Ihre Werke gehören heute gleichfalls zu den viel bewunderten Schöpfungen der klassischen Kunst. Im Altertum stießen sich aber nicht wenige an diesen Statuen, weil sie nicht dem Zeitstil entsprachen.Zu den Bildhauern, die konsequent eigene Wege gingen, gehört Myron, ein nur wenig älterer Zeitgenosse des Polyklet. Sein Bildnis eines Diskuswerfers ist in der römischen Zeit mehrfach kopiert worden. Aus der gleichen Zeit liegt auch eine Beschreibung vor, die die Statue prägnant charakterisiert: »Der Diskuswerfer, der sich in der Stellung des Abwurfs zusammenbiegt, sich nach der Wurfscheibe umwendet, leicht mit dem Fuß einknickt, und dem man es ansieht, dass er sich nach dem Wurf wieder aufrichten wird.« (Lukian).Was ist an einem solchen Darstellungsmotiv so bemerkenswert, dass es darüber zu Kontroversen kommen konnte? Einhelliges Lob erhielt Myron für seine naturnahe Wiedergabe des Haares und der Körperoberfläche. Im ersten Jahrhundert n. Chr. urteilt der römische Schriftsteller Plinius, Myron habe als erster die Wahrheit vervielfacht. Die der Natur täuschend ähnlich gebildeten Körper seiner Tier- und Menschenfiguren haben einem reichen Anekdotenschatz zufolge immer wieder zu peinlichen Verirrungen geführt, weil sie für wahrhaftige Lebewesen gehalten wurden. Man glaubte, ihren Atem zu spüren.Bei einem Blick auf die Statue des Diskuswerfers scheint diese Bewertung weit übertrieben. Doch kennen wir auch dieses Werk nur in Gestalt einer römischen Nachbildung, die das orginale Bronzebildnis zudem in eine andere Materie, den Marmor, übertragen hat. Welche Beeinträchtigung unsere Kenntnis von der griechischen Kunst dadurch erfährt, dass wir nahezu alle Skulpturen nur in der indirekten Überlieferung der römischen Kopien vor Augen haben, wurde einmal mehr deutlich, als vor einigen Jahren zwei bronzene Originalwerke des 5. Jahrhunderts im Meer bei Riace gefunden wurden. Die ältere der beiden ist zeitgleich mit dem myronischen Diskuswerfer entstanden. An ihr lässt sich nachvollziehen, wie detailliert die Körperoberfläche zu jener Zeit bei Bronzestatuen ausgearbeitet sein konnte. In diesem Punkt ging Myron mit den Bestrebungen seiner Zeit konform.Provozierend war jedoch seine Motivwahl. Athleten - auch Diskuswerfer - waren ein bevorzugtes Thema der Bildkunst, niemals zuvor ist jedoch eine Statue geschaffen worden, die einen Athleten inmitten der Aktion im Bilde festhält. Einer solchen Darstellung lasse sich nicht entnehmen, mit welcher Geisteshaltung der Athlet agiere, lautete der Vorwurf. Ein soches Handlungsmotiv sei nicht gedankenvoll genug. Mit ganz anderen Worten zielt ein anderer Tadel letztlich in die gleiche Richtung: der Figur fehle der Ausdruck, weil sie nicht aufrecht stehe. Der Vergleich mit einer etwa 50 Jahr später entstandenen Statue eines Diskuswerfers macht deutlich, welche Erwartungen man in der klassischen Zeit an ausdrucksvolle Kunst richtete. Der aufrecht stehende Diskuswerfer hält vor der Aktion inne und sammelt seine Gedanken. Die Konzentration auf die bevorstehende Aktion bestimmt den Ausdruck der Statue.Das zweite sicher mit Myron zu verbindende Werk ist eine Gruppenkomposition. Ihr liegt der Mythos von dem Übermut des Satyrn Marsyas zugrunde, der die von Athena mit Abscheu fortgeworfene Doppelflöte an sich nimmt und wegen dieser ungezügelten Gier später einen grauenvollen Tod erleidet. Athena hat die Flöte aus ihrer linken Hand gleiten lassen. Froh von dem als anstößig empfundenen Instrument befreit zu sein, und den verfluchend, der es wagen sollte, jemals wieder auf diesem Instrument zu spielen, wendet sie sich zum Gehen. Von rechts eilt der halbanimalische Marsyas heran. Er hat die am Boden liegende Flöte bereits im Visier, zögert aber noch mit dem Zugriff, bis die Göttin sich weiter entfernt haben wird. In dieser mehrfigurigen Darstellung hat Myron zwei Charakterstudien geschaffen, die in großem Abstand eher unvermittelt nebeneinander gestellt sind. Doch ist der Leerraum zwischen ihnen ein gestalterisches Element. Die freie Mitte wird durchkreuzt von den Blicken, die gleichermaßen auf die am Boden liegende Flöte gerichtet sind. Myron hat den spannendsten Augenblick der Episode als Momentaufnahme eingefangen, es ist die letzte Sekunde, bevor das Unheil für Marsyas seinen unabwendbaren Lauf nehmen wird.Myrons Zeitgenossen hatten für solche Kunst kein Gespür. Sie fanden, ihr fehle die Erhabenheit. Wie nach damaligen Normen eine dramatische Situation in einem statuarischen Bildwerk einzufangen sei, zeigt die nur wenig früher entstandene Gruppe der beiden Tyrannenmörder: parataktisch nebeneinandergestellt, bringen die Statuen des Harmodios und des Aristogeiton die Entschlossenheit der Attentäter zum Ausdruck, ohne dass der Vorgang der Tat wirklich eingefangen wäre.Zu einem Zeitpunkt, als die Kunst des Polyklet in ihrem Zenit stand, trat im späteren 5. Jahrhundert v. Chr. abermals ein eigensinniger Künstler auf den Plan: Paionios aus der Stadt Mende in Thrakien. Für ein Siegesdenkmal in Olympia hat er das Bild der Siegesgöttin Nike geschaffen. Sie schwebt in das Heiligtum herab. Das Motiv an sich ist uralt. Doch Paionios lässt alle Traditionen hinter sich. Seine in den Lüften schwebende Göttin ist sichtlich gezeichnet von den Schwierigkeiten der Landung. Der heftige Wind bläht ihr Gewand, der Körper gerät in Schräglage, die Flügel suchen mit unterschiedlicher Stellung das Gleichgewicht wiederherzustellen. Paionios hat seine Nike auf einen 9 m hohen schlanken Pfeiler gestellt. Doch berührt die Göttin den Pfeiler nicht: ihre Füße ruhen auf dem Rücken eines unter ihr dahinfliegenden Adlers - die Göttin ist durch dieses künstlerische Mittel in die Sphäre der Luft versetzt.Prof. Dr. Ulrich Sinn
Universal-Lexikon. 2012.